Hindernisfrei ist das neue «normal»
Philip Dijkstra, Verkehrsplaner des Zürcher Verkehrsverbunds (ZVV)
Mit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) stellte die Schweiz vor 20 Jahren wichtige Weichen: Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen sollten verringert oder beseitigt werden. Ein zentraler Punkt ist dabei der hindernisfreie öffentliche Verkehr. Für das Gebiet des Zürcher Verkehrsverbundes ZVV gilt: Es wurde viel erreicht. So bieten der ZVV und seine Verkehrsunternehmen eine grösstenteils niederflurige Fahrzeugflotte an. Auch haben die Gemeinden und der Kanton viele Haltestellen umgebaut, so dass es vielerorts eine Selbstverständlichkeit ist, ebenerdig in öffentliche Verkehrsmittel einzusteigen. Was einfach klingt, erfordert aber viele Absprachen, Planungen und umfangreiche finanzielle Mittel. Grundlegende Voraussetzung ist aber das Verständnis, dass das Thema nicht nur für eine spezifische Anspruchsgruppe relevant ist. Vielmehr werden nahezu alle Fahrgäste im Laufe Ihres Lebens von den Vorzügen eines hindernisfreien öV profitieren. Im ZVV hat man diese Denkweise früh verinnerlicht und schon 2002 ein Konzept für einen hindernisfreien öV erarbeitet. Bis heute verfolgt der ZVV dieses zentrale Anliegen auf strategischer Ebene mit Nachdruck. Für die konkrete Ausgestaltung sind aber die Verkehrsunternehmen und Tiefbauämter von Gemeinden und Kanton zuständig.
Erfolgsfaktoren aus Sicht Verkehrsplanung
Gesetz und Verordnungen regeln die hindernisfreie Ausgestaltung des öV relativ detailliert, was eine gewisse Planungssicherheit gibt. Letztlich geht es aber nicht um die Erfüllung von gesetzlichen Standards, sondern um gute Lösungen für die betroffenen Menschen. Aus Sicht des ZVV hat sich daher der direkte Austausch mit verschiedenen Anspruchsgruppen bewährt, um weitere Aspekte in die Planung einfliessen lassen zu können. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass Schnee ein unüberwindbares Hindernis für Personen im Rollstuhl darstellen kann, auch wenn die Infrastruktur und das Fahrzeug grundsätzlich benutzbar wären. Um das Bewusstsein für die Hindernisse in der Benützung des öffentlichen Verkehrs zu erhöhen, bietet es sich an diese Erfahrungen selbst zu machen und dabei auch Entscheidungsträger aus der Politik miteinzubeziehen.
Dabei treten bisweilen auch widersprüchliche Anforderungen von unterschiedlichen Anspruchsgruppen hervor. Es ist aber wichtig, dass diese Bedürfnisse bekannt sind, um einen tragfähigen Kompromiss zu finden, bevor man eine teure Investition auslöst.
Trotz aller Details in den zugehörigen Verordnungen und dem Gesetz besteht ein grosser Interpretationsspielraum bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit der Massnahmen. Dabei muss jede Massnahme im Einzelfall beurteilt werden. Das ist eine umfangreiche Aufgabe für die Gemeinden, den Kanton und die Transportunternehmen. Bei Bushaltestellen stellen oftmals die örtlichen Gegebenheiten die Planer vor Probleme. Liegt eine Haltestelle in einer Kurve, führt das zu einem Spalt zwischen dem Fahrzeug und der Haltekante, der für Personen im Rollstuhl allenfalls nicht überwindbar ist. Ist es verhältnismässig und sinnvoll, eine ganze Haltestelle zu verschieben? Und welche Massnahmen sind noch verhältnismässig, wenn kaum Fahrgäste ein- und aussteigen? Einzelne solche Entscheidungen werden wohl nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch durch Gerichte zu beurteilen sein.
Hinzu kommt, dass sich die Gesellschaft und die Technologie weiterentwickeln und es zu Anpassungen von Vorgaben kommt. Seit 2014 gilt beispielsweise, dass grundsätzlich die autonome Nutzbarkeit der Bushaltestellen mittels spezieller Randsteine ermöglicht werden kann und daher stets anzustreben ist. Das kann insbesondere bei Bushöfen mit engen Platzverhältnissen die Lösungsfindung erheblich erschweren und Kompromisse beim Betriebsablauf erforderlich machen. Veränderte Normen können es sogar erforderlich machen, dass eine weitere Anpassung an einer bereits ausgebauten Infrastruktur nötig wird.
Was bleibt zu tun?
Die Fahrzeugflotte ist fast vollständig niederflurig. Infrastrukturseitig liegt der Fokus der zuständigen Gemeinden und des Kantons auf wichtigen Bushaltestellen, die zeitnah umgebaut werden müssen. Es wird aber auch nach 2024 noch zahlreiche Haltestellen geben, die kein normkonformes Ein- und Aussteigen zulassen. Bis dies möglich ist sowie an Haltestellen, deren hindernisfreier Umbau in keinem Fall verhältnismässig sein wird, muss gemäss Gesetz eine Ersatzlösung (z.B. ein Ersatzfahrdienst) angeboten werden – egal wie tief die Frequenzen sind. Sinnvollerweise sollte hier eine möglichst einfache und landesweit einheitliche Lösung angestrebt werden. Der ZVV arbeitet hier mit, damit die gesetzliche Vision eines hindernisfreien öffentlichen Verkehrs möglichst rasch und vollständig Wirklichkeit wird.