Mobilität und Stadtentwicklung im Zeichen der Bundesverfassung
Autor: Ueli Haefeli, Interface Institut für Politikstudien Forschung Beratung AG Luzern / Universität Bern
Rivalitäten auf der Ebene von Kantonen und Städten verhinderten jedoch eine Realisation der ersten Projekte und dies hat dazu beigetragen, dass die Gründung eines Bundesstaates mit den entsprechenden Koordinationskompetenzen immer mehr in den Vordergrund trat. Die Eisenbahn wurde in der föderalistischen Schweiz dann allerdings zunächst nicht als Staatsbahn realisiert, sondern als private, vor allem von den Kantonen gesteuerte Unternehmung. Die Finanzierung zahlreicher Eisenbahnprojekte durch Private sowie interessierte Gemeinden und Kantone erwies sich angesichts einer den ganzen Kontinent erfassenden Eisenbahneuphorie zunächst als einfach, ihren Betrieb konnten die meisten Eisenbahngesellschaften dann aber nicht rentabel ausgestalten.
«Die Verstaatlichung der Eisenbahn kam wieder auf die politische Agenda»
Die Verstaatlichung der Eisenbahnen durch den Bund kam deshalb wieder auf die politische Agenda und wurde für Jahrzehnte zu einem brisanten Thema eidgenössischer Debatten. In einem ersten Schritt, dem Eisenbahngesetz von 1872, wurden dem Bund mehr Kompetenzen übertragen, so vor allem auch das Recht zur Konzessionserteilung. In einem zweiten, grossen Schritt stimmte das männliche Stimmvolk dann 1898 nach einem sehr lebhaften Referendum und mit der höchsten bis dahin erreichten Stimmbeteiligung dem Rückkauf der wichtigsten, hoch verschuldeten Eisenbahngesellschaften deutlich zu, was 1902 zur Gründung der SBB führte.
Eisenbahn sorgte zu rasantem Wachstum der Städte
Letztlich profitierte die Eisenbahn entscheidend vom Bundesstaat bzw. der Bundesverfassung, sie stimulierte aber gleichzeitig auch das wirtschaftliche Wachstum und die gesellschaftliche Kohärenz des jungen Bundesstaats in hohem Mass. Denn die Turbulenzen der frühen Eisenbahnpolitik verhinderten eine dynamische Entwicklung der Schweizer Städte keinesfalls, die Eisenbahn trug trotz allem im Sinne der genannten Koevolution zu einem geradezu rasanten Wachstum der Städte bei. Am ausgeprägtesten zeigte sich dies wohl in Zürich, dessen Bevölkerung sich zwischen 1850 und 1900 mehr als vervierfachte. Dieses Städtewachstum wiederum stellte die städtische Mobilität vor neue Herausforderungen, denn die fussläufige Stadt auf mittelalterlichen Grundrissen war damit definitiv Vergangenheit. Die immer zahlreichere Industriearbeiterschaft konnte ihre Arbeitsplätze nicht mehr zu Fuss erreichen und die wohlhabende Oberschicht wollte schneller zu ihren Villen am Stadtrand gelangen. Das elektrische Tram als erstes Massenverkehrsmittel wurde so in den ersten Jahrzehnten des 20 Jahrhunderts zum Stadtgestalter, ergänzt durch das Velo, das sich parallel dazu ebenfalls stark verbreitete.
«Endlich bauen!»
Neu gemischt wurden die Karten im Boom der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Soge des American Way of Life wurde das Auto zum Mass aller Dinge. Die Entwicklung der Verkehrspolitik im Zeichen des Autos ähnelt in vielem der Entwicklung der Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Besonders gilt dies für den Autobahnbau: Auch hier wurde eine Verspätung der Schweiz moniert und Isolationsängste geschürt. «Endlich bauen!» hiess es vielerorts. Der gesellschaftspolitische Druck erwies sich auch bei der Erstellung von Strasseninfrastruktur als erfolgreich. 1958 wurde an der Urne das Nationalstrassengesetz angenommen und damit etwas, das in der föderalistischen Schweiz nur selten Erfolg hat: Die Kantone traten im Autobahnbau freiwillig Kompetenzen an den Bund ab, um schneller voranzukommen. Das geplante Netz schloss dabei städtische Autobahnen ausdrücklich ein, was die städtischen Exekutiven in einer ersten Phase auch explizit gefordert hatten. Trotzdem blieb die Beziehung zwischen der traditionellen europäischen Stadt und dem Auto im Jargon der sozialen Netzwerke vor allem eines: kompliziert.
Grosse Autodominanz
Denn der Platzbedarf des motorisierten Individualverkehrs vertrug sich schlecht mit der Struktur historischer Innenstädte, dem städtischen Autobahnbau erwuchs mehr und mehr Widerstand. Als Resultat prägt heute ein Kompromiss die urbane Realität: Die Kernstädte wurden dem Auto nicht geopfert, der ganze Rest des Landes steht jedoch auch im Eisenbahnland Schweiz bis heute im Zeichen der Autodominanz. Auch dabei spielte die Bundesverfassung von 1848 eine wichtige Rolle, denn sie betonte die Gemeindeautonomie und legte auch gleichzeitig fest, dass die nationale Ebene anders als in den meisten Nachbarländern nicht befugt war, in grossem Stil finanzielle Ressourcen in die städtischen Verkehrsinfrastruktur zu pumpen wie das etwa in Deutschland mit dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz der Fall war. Dieses lockte dort die Kommunen mit Subventionen bis zu 90 Prozent und führte den (ÖPNV) in vielen Städten wegen überdimensionierten U-Bahnen oder unterirdischen Strassenbahnen an den Rand des Ruins, während sie gleichzeitig dem Auto an der Oberfläche zusätzlichen Raum schuf, was dessen Dominanz letztlich nochmals erhöhte.
Internationale Beachtung dank Gemeindeautonomie
Das Hochhalten der schweizerischen Gemeindeautonomie übte einen stetigen sanften und letztlich sehr produktiven Druck auf die Kernstädte aus, immer wieder innovativ neue Ansätze zur Gestaltung der städtischen Mobilität zu entwickeln. Diese fanden in der Folge oft nationale und auch internationale Beachtung, so beispielsweise bei der Bevorzugung des öffentlichen Verkehrs an ampelgesteuerten Kreuzungen, bei Begegnungszonen oder im Car-Sharing. In den letzten Jahrzehnten stand dabei die Suche nach einer Reduktion der Autodominanz im Vordergrund, wofür umwelt-, sicherheits-, gesundheits- und, seit einiger Zeit, auch klimapolitische Argumente eingebracht wurden.
Die dynamische Entwicklung der Mobilität im Bundesstaat war also seit jeher und bei allen Verkehrsmitteln stark von Impulsen aus den Städten geleitet. Von urbanen Innovationen im Verkehr hat dann jeweils das ganze Land profitiert.