Rückbesinnung auf Subsidiarität statt Mitsprache und Verflechtung: Wie die Städte ihre politischen Freiräume nutzen können
Autoren:
Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger, Ordinarius für Politische Ökonomie an der Universität Luzern, Direktor am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)
Dr. rer. pol. Marco Portmann, Leiter des Bereichs Politische Rahmenbedingungen am IWP
Wirtschaftsmotoren ohne Mitsprache?
Historisch betrachtet gelten die Städte als Wirtschaftsmotoren der Schweiz. Wer berufliche Ambitionen hatte, wer weiterkommen wollte, wer aufsteigen wollte, zog in die Stadt. Als Alexander Ludwig Funk und Johann Ulrich Schiess ihre Unterschriften unter die Bundesverfassung von 1848 setzten, galten die Schweizer Städte des 19. Jahrhunderts als «Zentren der Reformation, die ein neues Arbeitsethos mit sich brachte[n]» (Straumann 2010). Bildungsinstitutionen wie das eidgenössische Polytechnikum entstanden; das wirtschaftsfreundliche und liberale Klima in den Städten wirkten als Katalysatoren der wirtschaftlichen Entwicklung.
Seit Gründung des Bundesstaates liefen die städtischen Wirtschaftsmotoren mal langsamer und mal schneller. Heute brummen sie und an der Bedeutung der Städte besteht kein Zweifel. 64% der Schweizer Arbeitsplätze befinden sich in den Städten (SSV und BFS 2023). Die Stadtbevölkerung entrichtet 70% der direkten Bundessteuer natürlicher Personen, während ihr Anteil an der Bevölkerung 64% beträgt (Ecoplan 2022). Bei den juristischen Personen entfallen 80% des Bundessteuerertrags auf die Städte (ebenda).
Trotz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung räumt die Bundesverfassung den Städten weder in der Fassung von 1848 noch in der heutigen Form eine besondere Rolle ein. Lediglich zwei bescheidene Erwähnungen finden die Städte in der heutigen Bundesverfassung. In den letzten Jahren wurde der Ruf nach mehr Mitsprache laut. Die beiden (erledigten) parlamentarischen Vorstösse für Ständeratssitze für die Städte und einem Gemeindereferendum auf Bundesebene sind Ausdruck dieser Debatte. Der städtischen Forderung nach mehr Teilhabe mag ein Gefühl der Ohnmacht zugrunde liegen. Ein Ohnmachtsgefühl, weil den Städten immer mehr Aufgaben ohne Mitsprache aufgebürdet werden. Wir argumentieren, dass mehr Freiheitsgrade aber nicht durch Mitsprache im Politikgeflecht, sondern durch eine Rückbesinnung auf mehr Autonomie und Subsidiarität zu erreichen sind.
Sonderlasten und Vollzugsföderalismus beschränken die Autonomie
Der wachsende Wunsch nach mehr Mitbestimmung dürfte mit der tatsächlichen oder gefühlten Zunahme von Zentrums- und Sonderlasten und einem fortschreitenden Vollzugsföderalismus zusammenhängen. Verbleiben die Kosten staatlicher Aufgaben bei den Steuerzahlern einer Zentrumsgemeinde, während der Nutzen in erheblichem Umfang den Bürgern jenseits der Stadtgrenzen zufliesst, spricht man von Zentrumslasten. Typische Beispiele sind die Verkehrs-, Tourismus-, Kultur- und Sportinfrastruktur. Sonderlasten ergeben sich häufig aus einer besonderen soziodemografischen Zusammensetzung. AAA: Alter, Armut und Ausländer gelten als Kostentreiber für die öffentliche Hand. Wie die Gemeinden und Städte in diesen sozialpolitischen Fragen vorzugehen haben, wird ihnen zunehmend von Bund und Kantonen vorgeschrieben. Man spricht von Vollzugsföderalismus, wenn die Städte die ihnen von Bund und Kantonen übertragenen Aufgaben mit wenig oder gar keinen Freiheitsgraden wahrnehmen.
Heute kennen 14 Kantone einen Zentrumslastenausgleich (Ecoplan 2022). Im Bundesparlament bestand 2019 bei der neuerlichen Revision der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung (NFA) zwischen Bund und Kantonen Konsens, dass den soziodemographischen Lasten – welche den urbanen Raum stärker belasten – mehr Rechnung getragen werden soll. Gemäss dem nationalen Gemeindemonitoring 2017 sehen sich 70 Prozent der befragten Gemeindeschreiber mit einem Verlust an Gemeindeautonomie konfrontiert (Steiner et al. 2021). Während das Monitoring die Ursache dafür nicht eruiert, ist ein Zusammenhang mit einem fortschreitenden Vollzugsföderalismus plausibel. Sodann kommen Schaltegger et al. (2017) und Schaltegger et al. (2023) zum Schluss, dass auf Bundesebene die Politikverflechtung zwischen den Staatsebenen trotz der NFA im Jahr 2008 zugenommen hat.
Angesichts der zunehmenden Verflechtung der öffentlichen Ausgaben und Einnahmen über die Stadtgrenzen und Staatsebenen hinweg überrascht der Koordinations- und Mitsprachebedarf der Städte nicht. Er entspringt dem genuinen Wunsch, die Wirtschaftsmotoren nicht durch Fremdbestimmung abzuwürgen.
Subsidiaritätsprinzip schafft Handlungsspielraum
Die vermeintliche Lösung klingt einleuchtend: Mehr politische Teilhabe führt zu Kontrolle und schafft Freiheitsgrade. Leider greift die Überlegung zu kurz und das Ergebnis kann sich ins Gegenteil verkehren.
Die heutigen Politikverflechtungen keimen oft in einer scheinbar geringfügigen Übertretung des Subsidiaritätsprinzips. Die Parlamente und Exekutiven der übergeordneten Staatsebenen setzen zur Regulierung der Politik auf der unteren Ebene an. Ob aus Machtgelüsten oder im guten Glauben an die eigenen Mikromanagementfähigkeiten spielt dabei keine Rolle. Weil die verordnete Politik Kostenfolgen hat, werden Entschädigungen ausgehandelt. Schliesslich soll der Besteller für die Mehrkosten aufkommen. Weil sich der Zahler umso mehr legitimiert fühlt, die Politik nach seinen Vorstellungen zu gestalten, folgen weitere Regulierungen auf dem Fusse. Die Verflechtungsspirale, die schon Popitz (1927) beschrieb, setzt sich in Bewegung.
Die politische Teilhabe ist indes kein Garant für Entflechtung. Denn Verflechtung ist für viele Handlungsträger durchaus attraktiv. Verantwortung lässt sich so hervorragend teilen und verschleiern. Politische Mitsprache auf den übergeordneten Staatsebenen öffnet nicht nur Tür und Tor, um den Preis, sprich die Subvention, für die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips in die Höhe zu treiben. Sie lädt sogar zur Beutejagd auf die Budgets der übergeordneten Staatsebenen ein. Aus diesen Gründen führt mehr Teilhabe nicht zu mehr politischen Freiheitsgraden, sondern zu Politikverflechtung und Handlungsunfähigkeit.
Der Weg zu mehr politischer Selbstbestimmung ist geradezu simpel. Er ist bereits in der Bundesverfassung von 1848 vorgezeichnet - auch für die Städte. Die politischen Freiräume liegen in der strikten Behaftung auf das Subsidiaritätsprinzip. Die Nicht-Nennung von weiteren Rechten und Pflichten in der Bundesverfassung ist Freiheit. Damit sie gelebt werden kann, braucht es zweierlei. Erstens braucht es politischen Mut, Kreativität und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Dazu gehört, gemeindeübergreifende Anliegen ex ante und horizontal zu adressieren, statt auf nationale und kantonale Ausgleichszahlungen zu pochen. Zweitens braucht es die Rückbesinnung aller politischen Akteure auf das Subsidiaritätsprinzip. Denn der Schlüssel zu mehr politischen Freiheitsgraden liegt nicht in der Mitsprache eines jeden auf allen Staatsebenen, sondern in der Erhaltung der eigenen Autonomie.
Literatur
- Ecoplan. (2022). Fakten zu Stadt und Land. Analyse wichtiger Daten zu den finanziellen Beziehungen von Stadt und Land (Im Auftrag der Konferenz der städtischen Finanzdirektorinnen und -direktoren (KSFD) sowie des Schweizerischen Städteverbands (SSV)).
- Popitz, J. (1927). Der Finanzausgleich. In W. Gerloff & F. Meisel (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft (Bd. 2, S. 338–375). Tübingen.
- Schaltegger, C. A., Portmann, M. & Winistörfer, M. M. (2023). Durcheinanderland Schweiz. Weltwoche, 04.02.2023, S. 37.
- Schaltegger, C. A., Winistörfer, M. M. & Fässler, L. (2017). Verflechtungen bedrohen Föderalismus. Die Volkswirtschaft, (10), 42–45.
- Schweizerischer Städteverband SSV & Bundesamt für Statistik. Statistik der Schweizer Städte 2023.
- Steiner, R., Ladner, A., Kaiser, C., Haus, A., Amsellem, A. & Keuffer, N. Zustand und Entwicklung der Schweizer Gemeinden. Ergebnisse des nationalen Gemeindemonitorings 2017.
- Straumann, T. (2010). Warum ist die Schweiz ein reiches Land? Eine Antwort aus wirtschaftshistorischer Sicht. Die Volkswirtschaft, 83 (1-2).
Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger ist Ordinarius für Politische Ökonomie an der Universität Luzern und Direktor am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP, links)
Dr. rer. pol. Marco Portmann ist Leiter des Bereichs Politische Rahmenbedingungen am IWP (rechts)