Die Städte als Motoren des Frauenstimmrechts
Autorin: Brigitte Studer, Prof. emerita für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern.
Die Forderung, nach 1848 auch den Schweizerinnen das Stimm- und Wahlrecht zu gewähren, war zwar bereits im 19. Jahrhundert vereinzelt zu hören, systematisch und organisiert ertönte sie jedoch erst mit dem beginnenden 20. Jahrhundert. Kurz nach der Jahrhundertwende entstanden die ersten Schweizer Stimmrechtsvereine, zuerst auf lokaler Ebene – und zwar als erstes in den Städten Neuenburg und Olten (1905), gefolgt von den Städten Genf und Lausanne, Bern und La Chaux-de-Fonds. Anfang Januar 1909 erfolgte auf Anregung der internationalen Schwesterorganisation die Gründung einer nationalen Stimmrechtsorganisation. Die Mitgliederzahl des gemischtgeschlechtlichen Schweizerischen Verbands für Frauenstimmrecht (SVF) blieb zwar beschränkt, doch rekrutierte sie sich in dieser frühen Phase fast ausschliesslich aus Vertreterinnen und Vertreter städtischer Eliten. Insbesondere in den Städten Genf und Zürich dominierten Professoren, Ärztinnen, Lehrerinnen, Bankiers, Pfarrersgattinnen und liberale Politiker, während sich in der Uhrenindustriestadt La Chaux-de-Fonds zahlreiche sozialdemokratische Verbandsfunktionäre und lokale Beamte sowie freisinnig-philanthropische Industrielle neben ihren Gattinnen und ledigen Lehrerinnen für die politischen Rechte der Frauen engagierten.
38 Jahre Wartezeit
Dass die Forderung des Frauenstimmrechts am Ende des Ersten Weltkriegs und nach dem Schweizer Generalstreik schliesslich auch im Parlament traktandiert wurde, geht auf die Motionen der beiden Nationalräte Herman Greulich und Emil Göttisheim im Dezember 1918 zurück. In der im Juni 1919 folgenden Debatte argumentierten der Sozialdemokrat aus Zürich und der Freisinnige aus Basel-Stadt, dass das Frauenstimmrecht ein Menschenrecht, also ein demokratisches Grundrecht, sei und dass eine Demokratie die Partizipation aller verlange. Das beeindruckte den Bundesrat keineswegs. Er akzeptierte die Motionen nur als unverbindliche Postulate, was zur Folge hatte, dass sie jahrzehntelang in einer Schublade verschwanden. Auch als die Frauenorganisationen 1929 eine Petition mit immerhin 250 000 Unterschriften einreichten, unterliess es der Bundesrat zu handeln, obschon die Petitionskommission des Parlaments die zwei Postulate Greulich und Göttisheim mit einer Motion reaktiviert hatte und die Räte diese als erheblich erklärten. Erst im Februar 1957, nach 38 Jahren, verabschiedete er eine erste Botschaft zur Umsetzung der Forderung!
Das Ergebnis der eidgenössischen Abstimmung vom 1. Februar 1959 war für die Befürworterinnen und Befürworter mehr als enttäuschend: Bei einer Stimmbeteiligung von 66,7 Prozent hatten zwei Drittel der Schweizer Männer Nein gesagt. Zugestimmt hatten hingegen die männlichen Stimmberechtigten der Kantone Genf, Neuenburg und Waadt mit je einer Mehrheit von 60, 52,2 und 51,3 Prozent. Die Stadt Lausanne nahm die eidgenössische Vorlage sogar mit 64,4 Prozent an, die kantonale mit 65,5 Prozent. Auch im Kanton Neuenburg war das Resultat der Städte Neuenburg, La Chaux-de-Fonds und Le Locle entscheidend. Die drei lateinischen Kantone führten noch im selben, respektive im Fall von Genf im folgenden Jahr, das integrale Frauenstimmrecht auf kantonaler und kommunaler Ebene ein. Ebenfalls vor 1971, aber mit zeitlichem Abstand, folgten Basel-Stadt (1966), Basel-Landschaft und Solothurn (1968), das Tessin (1968), Luzern, Zürich und Wallis (1970). In fast allen diesen Kantonen hatte die Frage bereits mehrmals auf der politischen Abstimmungsagenda gestanden, was darauf hinweist, dass sich aktive Stimmrechtsbefürworter und -befürworterinnen wiederholt für das Anliegen eingesetzt und die politischen Behörden den Stimmberechtigten auch eine entsprechende Abstimmungsvorlage vorgelegt hatten.
Progressive Rolle der Städte
Weshalb sich gerade die lateinische Schweiz (VD, NE, GE, TI, VS) und/oder mehr oder weniger urban geprägte Kantone (BS, BL, LU, ZH) gleichstellungsfreundlicher als der schweizerische Durchschnitt und vor allem die Zentral- und Ostschweizer Kantone positionierten, lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen. Sie treffen zwar nicht in allen Fällen gleichermassen stark zu, stehen aber in deutlichem Bezug zu Modernitätscharakteristiken wie Bevölkerungsdichte, Ausländeranteil oder Grenznähe, räumliche Mobilität, überdurchschnittliche Frauenbildung, relativ hohe wirtschaftliche Leistung, ausgebauter Sekundär- und/oder Tertiärsektor, Standort einer Universität und/oder einer höheren Ausbildungsinstitution, etablierte Linksparteien und nach dem Zweiten Weltkrieg kulturell progressive bürgerliche Parteien wie zum Teil der Freisinn sowie nicht zuletzt aktive Frauenorganisationen. Der konfessionelle Faktor spielte ebenfalls eine Rolle, war aber ab den 1950er Jahren allein nicht mehr determinierend.
Die progressive Rolle der Städte zeigte sich schon früh in den Abstimmungsergebnissen. Der Stadt-Land-Graben prägte bereits die allererste Schweizer Abstimmung, die am 29. Juni 1919 im Kanton Neuenburg stattfand. Während insgesamt nur 30,8 Prozent der stimmberechtigten Männer die Einführung des Frauenstimmrechts begrüssten, betrug der Ja-Stimmen-Anteil in der Uhrenarbeiterstadt La Chaux-de-Fonds ganze 44 Prozent. Und in Le Locle fehlten nur 30 Stimmen für eine Mehrheit.
Auch das gesamtschweizerisch positive Ergebnis vom 7. Februar 1971 mit seiner Zustimmungsrate von 65,7 Prozent zur Änderung von Artikel 74 der alten Bundesverfassung, ist in erster Linie den Städten zu verdanken. In den fünf grössten Schweizer Städten lag die Zustimmungsrate bei einem Anteil von vier Fünfteln (79,5 Prozent). In den beiden Westschweizer Städten Genf und Lausanne sprachen sich sogar rund 90 Prozent der Stimmenden für die Vorlage aus: In Genf waren es 91,5 Prozent und in Lausanne 88,3 Prozent. Auch die Städte Basel, Bern und Zürich wiesen Zustimmungsraten zwischen 82 und 74 Prozent auf. Dagegen erreichten die ländlichen Gemeinden insgesamt nur eine Zustimmungsrate von 55,5 Prozent. Und in dreissig ländlichen Gemeinden lag der Ja-Stimmenanteil sogar zwischen null und zwanzig Prozent.
Literatur
- Werner Seitz, Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900, Zürich 2020.
- Brigitte Studer, La Conquête d'un droit. Le suffrage féminin en Suisse (1848-1971), Neuchâtel 2020.
- Brigitte Studer, Judith Wyttenbach, Frauenstimmrecht. Historische und rechtliche Entwicklungen 1848 - 1971, Zürich 2021.
Brigitte Studer ist Prof. emerita für Schweizer und Neueste Allgemeine Geschichte an der Universität Bern.