FR

Wollen wir eine effiziente, umwelt- und sozialverträgliche Mobilität in der Stadt?

18. März 2024 – Die Städte befinden sich an einem Scheideweg. Unabhängig von ihrer Grösse und ihrer politischen Mehrheit streben sie alle nach einer flächen- und energieeffizienten Mobilität. Allerdings werden ihnen in mehreren Bereichen Steine in den Weg gelegt. Das Erreichen der gemeinsamen Ziele der Innenverdichtung und Netto-Null-Treibhausgasemission bis 2050 würde jedoch bedeuten, dass Diskrepanzen überwunden und kollektive Interessen in den Mittelpunkt gestellt werden müssten. Die jüngsten Signale aus National- und Ständerat verheissen nichts Gutes.

Nathanaël Bruchez, Leiter Verkehrspolitik beim Schweizerischen Städteverband

 

Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um uns folgende zentrale Frage zu stellen: Welche Stadt wollen wir? Die Stadt der 1980er Jahre, die durch fehlende hochwertige öffentliche Räume und die Dominanz des Autoverkehrs gekennzeichnet war? Oder sind wir der Meinung, dass die Bemühungen der letzten 25 Jahre – Verkehrsberuhigung in Innenstädten und Stadtquartieren, Schaffung von Aufenthaltszonen sowie Ausbau des öffentlichen Verkehrs und Förderung der sanften Mobilität – die richtige Stossrichtung sind? Es ist davon auszugehen, dass ein grosser Teil der Stadtbevölkerung sowie der täglichen Besucherinnen und Besucher die Schweizer Stadt von 2024 jener von 1984, und eine «Stadt der Gassen» (Englisch «street», Französisch «rue») einer «Stadt der Strassen» (Englisch «road», Französisch «route») vorziehen wird. Vor diesem Hintergrund setzen die Städte ihre Bemühungen zur Aufwertung ihrer Stadtgebiete weiterhin fort.

 

Städte sind keine Inseln. Sie interagieren sowohl horizontal mit der umliegenden Region als auch vertikal mit den Kantonen und dem Bund. Dabei werden indes zwei wichtige politische Ziele durch sämtliche Ebenen unseres Staates unterstützt: Siedlungsentwicklung nach innen und Netto-Null-Treibhausgasemissionen bis 2050. Diese Zielsetzungen können entweder schöne Absichtserklärungen bleiben, wie man sie in Sonntagsreden immer wieder hört, oder aber durch die Ergreifung von Massnahmen konkret umgesetzt werden, was notwendige Anpassungen des Verhaltens mit sich bringen kann. Die Städte haben sich für die zweite Option entschieden. Um die erforderlichen Massnahmen zu konkretisieren, müssen die Städte nicht nur über die notwendige Autonomie verfügen, sondern auch auf die ausdrückliche Unterstützung des Bundes zählen können. Dies ist die zentrale Forderung, die der SSV in seinem neuen Positionspapier «Für eine effiziente, umwelt- und sozialverträgliche urbane Mobilität» formuliert.

 

Raumsparende Mobilität

Als konkretes Beispiel sei das Ziel der Siedlungsverdichtung genannt. Die Städte wollen ihre Erreichbarkeit erhalten und idealerweise verbessern. In einem zunehmend dichter besiedelten Gebiet lässt sich diese Erreichbarkeit jedoch nur durch eine Umstellung auf eine weniger flächenintensive Mobilität gewährleisten. Dies wird notwendigerweise durch eine Stärkung der drei Säulen einer nachhaltigen städtischen Mobilität geschehen: Fussverkehr, öffentliche Verkehrsmittel, Veloverkehr. In dieser Hinsicht können gewisse Massnahmen autonom durch die Städte getroffen werden: Schaffung direkter und hochwertiger Wege für den Fuss- und Veloverkehr, Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes usw. Die Kompetenz der Städte ist hinsichtlich weiteren Massnahmen hingegen begrenzt. Die Vorschriften bezüglich Markierung und Signalisation von Velowegnetzen lassen den Städten nur wenig Handlungsspielraum, um innovative Ansätze zu testen, die den Stellenwert des Velos erhöhen könnten. Die Temporeduktionen verbessern die Koexistenz der verschiedenen Fortbewegungsarten und fördern den Fuss- und Veloverkehr. Auf Hauptverkehrsachsen können die Städte Temporeduktionen allerdings nicht frei anordnen, insbesondere wenn es sich um kantonale Strassen handelt.

 

Negative Signale aus dem Bundeshaus

Zum letztgenannten Aspekt haben die eidgenössischen Räte in der Frühlingssession den Städten nicht nur keine zusätzliche Autonomie zur punktuellen Herabsetzung der Geschwindigkeiten eingeräumt – um die Lärmbelastung der Bevölkerung zu reduzieren, die Zahl der Todesfälle und schweren Unfälle zu senken sowie den Langsamverkehr zu fördern –, sondern auch zwei Entscheidungen getroffen, die im aktuellen Kontext schwer nachvollziehbar sind.

 

Erstens hat der Ständerat eine Motion angenommen, die auf sogenannten «verkehrsorientierten Strassen» das Tempo 50 auferlegen wollte. Dieser Entscheid scheint sowohl formal wie inhaltlich bedenklich.

  • Zur Form: Die Absicht, auf Bundesebene ohne Rücksicht auf die örtlichen Gegebenheiten eine einheitliche Geschwindigkeit vorschreiben zu wollen, ist willkürlich. Nach gesundem Menschenverstand ist es naheliegend, dass die Städte am besten beurteilen können, welche Geschwindigkeit für welchen Teil ihres Gebiets geeignet ist.
  • Zum Inhalt: Temporeduktionen auf Strassen, die dicht besiedelte Ballungsgebiete durchqueren, bieten zahlreiche Vorteile: Höhere Sicherheit insbesondere für Kinder und ältere Menschen, Reduktion der stark gesundheitsschädlichen Lärmbelastung, erleichterte Koexistenz der verschiedenen Fortbewegungsarten als Anstoss für den Fuss- und Veloverkehr, Raumgewinn für willkommene Begrünung, um dem Phänomen der Hitzeinseln im Sommer entgegenzuwirken, usw. Bei den Nachteilen kann für eine mit dem Auto hinterlegte Strecke ein Verlust von wenigen Sekunden oder im Extremfall von einigen Minuten genannt werden. Die Bilanz ist klar: Sie tendiert in den meisten Fällen zugunsten einer Temporeduktion.

Zweitens hat der Nationalrat, im Rahmen der laufenden Revision des Umweltschutzgesetzes einen sonderbaren Entscheid gefällt. Zur Erinnerung: Ziel dieser Gesetzesrevision ist die bessere Vereinbarkeit von Lärmschutz und Wohnungsbau. Um die urbane Verdichtung zu fördern, wäre es in einem Kontext der zunehmenden Wohnungsknappheit logischer gewesen, auf die ökonomisch günstigste, einfachste und am raschesten umsetzbare Massnahme zu setzen: auf eine Temporeduktion im Falle einer Überschreitung der Lärmgrenzwerte. Eine Reduktion von Tempo 50 auf 30 lässt sich sehr schnell und kostengünstig umsetzen, im Gegensatz zum teuren Verlegen lärmarmer Strassenbeläge. Und was war nun der Mehrheitsentscheid des Nationalrates? Eine Geschwindigkeitsreduktion auf sogenannt «verkehrsorientierten Strassen» als Massnahme der Lärmsanierung soll nicht mehr gefordert werden können! Im Klartext: Damit wurde nicht nur die effizienteste Massnahme zur Freigabe von Bauprojekten vom Tisch gewischt, sondern darüber hinaus ein Verbot dagegen formuliert, welches noch zahlreichere Menschen als heute einer übermässigen Lärmbelastung aussetzen wird.

 

Gemeinwohl muss über persönlichen Interessen stehen

Die beiden obengenannten Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit verweisen uns auf die zentrale Frage, mit welchen Mitteln man sich in der Schweiz ausstatten will, um die grossen, auf nationaler Ebene festgelegten Ziele zu erreichen. Die Städte engagieren sich ganz konkret, um ihren Beitrag zur Erreichung dieser Ziele zu leisten, indem sie den unterschiedlichen Bedürfnissen der Bevölkerung und der Wirtschaft bestmöglich gerecht werden. Einzig durch die Überwindung von Partikular- und kurzfristigen Interessen kann es gelingen, dem Gemeinwohl und nicht persönlichen Interessen den Vorrang zu geben. Die Städte nehmen ihre Verantwortung wahr und zählen auf die Unterstützung ihrer Partner.

  ·  
+41 78 739 78 16
  ·  
info@aegerter-holz.ch