Ungehört in Bundesbern?
Wird auf Hauptstrassen in Zukunft gegen den Willen der Städte und Gemeinden ausschliesslich Tempo 50 möglich sein? Eine solche Anpassung will eine vom Parlament angenommene Motion, die der Bundesrat nun umsetzen muss. Was das für die Realität vor Ort bedeutet, mag für das Parlament weit weg sein. Städte und Gemeinden hingegen sehen die Folgen der Politik direkt vor ihrer Haustüre. Sie wissen deshalb, dass es teilweise sinnvoll ist, die erlaubte Höchstgeschwindigkeit auf Hauptstrassen zu verringern. Etwa vor Schulen oder Kindergärten, wo die Sicherheit der Kinder gefährdet ist; oder an dicht besiedelten Abschnitten, wo die Gesundheit vieler Menschen durch die höhere Lärmbelastung leidet. Bisher konnten Städte bei den Kantonen beantragen, dass auf solchen Hauptstrassen-Abschnitten Tempo 30 eingeführt wird. Das muss weiterhin möglich sein. Zu einer guten Lebens- und Aufenthaltsqualität tragen gute Strassenräume für Menschen bei. Daher liegt es auf der Hand, dass Städte und Gemeinden gegen diese Motion waren. Sowohl der Schweizerische Gemeindeverband (SGV) als auch der Schweizerische Städteverband (SSV) haben das Parlament wiederholt darauf hingewiesen, dass die dritte Staatsebene nichts von der Motion hält. Die Bedürfnisse der Städte und Gemeinden blieben ungehört. Hinzu kommt: Bislang hat der Bundesrat die dritte Staatsebene nicht einbezogen – und dies obschon die Städte und Agglomerationen direkt betroffen sind und die Umsetzung der Motion die Gemeindeautonomie an sich untergräbt: Der Handlungsspielraum der städtischen Mobilitätspolitik wird dadurch beschnitten.
Das Beispiel zeigt exemplarisch, was Städte und Gemeinden immer wieder erfahren: Die Einbindung der dritten Staatsebene in Bundesbern kennt enge Grenzen. Doch welche Einbindung ist eigentlich vorgesehen? In der alten Bundesverfassung (1874) gab es keine Nennung der Gemeinden oder Städte. 1994 fordert der Städterverband, die Städte besser zu berücksichtigen. Nach zwei Anläufen hatte die Forderung schliesslich Erfolg: Ein neuer «Gemeindeartikel» (Art. 50) wurde in die revidierte Bundesverfassung aufgenommen und auf das Jahr 2000 in Kraft gesetzt. Demnach ist die Gemeindeautonomie nach Massgabe des kantonalen Rechts gewährleistet und der Bund beachtet bei seinem Handeln die möglichen Auswirkungen auf die Gemeinden, wobei er Rücksicht auf die besondere Situation der Städte und Agglomerationen nimmt.
2013 forderten die damaligen Präsidenten des Städteverbands und des Gemeindeverbandes via Postulate im National- und Ständerat den Bund auf, die Wirkung von Artikel 50 aufzuzeigen. Der Bundesrat attestierte sich in seiner Antwort eine gute Umsetzung. Er erwähnte beispielsweise den Einbezug bei Vernehmlassungen, die Tripartite Agglomerationskonferenz und die Neugestaltung des Finanzausgleichs. Er stellte allerdings auch verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten fest; darunter einen besseren Einbezug der Städte und Gemeinden bei der Erarbeitung von Erlassentwürfen, eine bessere Nutzung der Vernehmlassungsverfahren, um den Umsetzungsaufwand bei Städten und Gemeinden zu kennen, oder die Angaben über die raumrelevanten Auswirkungen in Botschaften und Anträgen zu verbessern.
Ohne Zweifel hat der Einbezug der Städte und Gemeinden seit der Einführung des Artikels 50 BV zugenommen. Er ist insbesondere bei standardisierten Prozessen (Vernehmlassungen) oder neu gegründeten Institutionen (Tripartite Agglomerationskonferenz (TAK) verbindlich und wird insgesamt auch eingehalten. Dennoch gibt es noch Optimierungsbedarf. So ist die Sichtbarkeit bei diesen Prozessen im Vergleich mit den Kantonen sehr gering. Das führt dazu, dass die Bedürfnisse von Städten und Gemeinden in Bundesbern wenig Gehör finden. Dafür gibt es nebst der «Motion zu Tempo 50 auf Hauptstrassen» zahlreiche weitere Beispiele: Städte und Gemeinden konnten nicht an der Massnahmenplanung in der Covid-19-Pandemie teilnehmen. Ein fakultatives Vorkaufsrecht für Städte und Gemeinden bei Grundstücken und Immobilien hatte keine Chance. Oder auch: Für den Einbezug in Programmvereinbarungen müssen Städte und Gemeinden kämpfen.
Dieses Jahr wird der Artikel 50 BV 25-jährig. Ein guter Zeitpunkt, um den Einbezug der Städte und Gemeinden in die Bundespolitik zu prüfen. Der Städteverband und der Gemeindeverband nutzen das Jubiläumsjahr, um die bisherigen Bemühungen kritisch zu würdigen und zu diskutieren, wo für die Zukunft noch Potential für eine bessere Berücksichtigung der dritten Staatsebene besteht.