Ganztägige Bildung und Betreuung in Schweizer Städten
Diana Neuber, Projektleiterin Schulentwicklung bei der Stadt Winterthur, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Städteinitiative Bildung
Was ist mit «Tagesschule» eigentlich gemeint? So klar, wie es auf den ersten Blick scheint, ist diese Frage für die Schweiz nicht zu beantworten. Was heute für die einen eine unterrichtsergänzende Tagesschule ist, bedeutet für die andern etwa eine familienergänzende Tagesstruktur. Die Städteinitiative Bildung hat in ihrem Themenpapier den Entwicklungsstand und die Perspektiven zum Thema Tagesstrukturen und Tagesschulen bei ihren 27 Mitgliedsstädten unter die Lupe genommen. Dabei wurde der Versuch unternommen, die verschiedenen vorgefundenen Modelle zu systematisieren und die uneinheitliche Begriffswelt zu ordnen. Das Themenpapier bildet die breiten Erfahrungen ab, die ausgewählte Städte mit ihren Modellen gewonnen haben, bettet sie ein in den fachlichen Diskurs und leitet Erkenntnisse und Empfehlungen für Fachpersonen und politische Entscheidungsträger/-innen ab.
Ungebundene und gebundene Angebote
Beim Blick auf die aktuelle Situation zeigt sich eine enorme Vielfalt an Ausgestaltungsformen. Die meisten Städte bieten eine Betreuung über den Mittag an und sind dabei, ihr Angebot vor und nach dem Unterricht auszubauen. Fast immer sind dies modulare Tagesstrukturen, die von den Eltern bzw. Jugendlichen für einen bestimmten Zeitraum frei gewählt werden können. Diese werden als ungebundene Angebote bezeichnet. Für die Kinder und Jugendlichen bedeutet dies jedoch, dass sie täglich in wechselnder Gruppenzusammensetzung betreut werden. Ausserdem können nicht alle Kinder von Angeboten ausserhalb des Unterrichtsprofitieren, sondern nur jene, die für die Betreuung angemeldet sind.
Oft haben Städte das Fernziel einer pädagogisch gestalteten, über den gesamten Schultag frei rhythmisierten und mit Freizeitanbietern aus Kultur und Sport kooperierenden Tagesschule vor Augen. Diese Form geht von zunehmend gebunden Betreuungsangeboten aus, also Zeitfenstern ausserhalb des Unterrichts, die für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich sind. Davon versprechen sich Schulen nicht nur einen Zugewinn an Zeit, sondern auch an qualitativ besser gestaltbaren Strukturen und Inhalten für alle Kinder und Jugendlichen an der Tagesschule.
Das Modell der «klassischen Tagesschule» hat u.a. zum Ziel, den Tages- und Wochenablauf lernförderlich zu rhythmisieren und jenseits starrer Unterrichtslektionen zu gestalten. Sie vertritt integrale Ansprüche, die das Projektlernen ebenso betonen wie das soziale Lernen und die kulturelle Bildung und dabei im gemeinsamen Gestalten der Schule zur sozialen Integration und zur Chancengerechtigkeit beitragen. Diese Form scheint aus heutiger Sicht jedoch lediglich punktuell finanzierbar.
Weil in der öffentlichen Volksschule stets alle Schülerinnen und Schüler zu integrieren sind, bedeutet der Übergang von ungebundenen zu gebundenen Betreuungsangeboten eine echte Schwelle, finanziell und organisatorisch. Die Stadt Zürich hat durch die flächendeckende Gestaltung der Mittagspause einen bedeutsamen Schritt in diese Richtung unternommen. Nicht wenige Städte sind dabei, diesen Schritt punktuell zu machen, indem sie neben den Tagesstrukturen der Regelschulen an einzelnen Standorten, meist über die Stadt verteilt, auch separate Tagesschulen aufbauen.
Schulpädagogische und sozialpädagogische Perspektive
«Bildung beschränkt sich nicht allein auf Unterricht, sondern findet überall statt» - dies ist der gemeinsame Leitgedanke aller vorgefundenen Modelle. Der schulergänzende und schulintegrierte Weg ist in den meisten Schweizer Städten der Königsweg bei der Gestaltung erweiterter Betreuungszeiten. Es gibt aber auch einzelne Beispiele, die sich davon abgrenzen. Es sind familienergänzende und familienerweiternde Wege, die in ihren Konzeptionen nicht von der Schule ausgehen, sondern von der Familie, der Nachbarschaft und/oder dem Quartier – die Freizeit der Kinder wird in dieser Perspektive auch räumlich bewusst von Unterricht und Schule abgegrenzt. Angebote dieses Typs können zwar durchaus auch an der Schule oder schulnah stattfinden, werden aber in der Regel nicht von der Schulleitung verantwortet. Auch sie sind zunehmend pädagogisch gestaltet, allerdings wird für diese Freizeitpädagogik der Kinder und Jugendlichen nicht die Schul-, sondern die Sozialpädagogik als zuständig erklärt.
Das Themenpapier liefert zahlreiche Umsetzungsbeispiele für den einen oder anderen Weg, macht auf Herausforderungen aufmerksam und zeigt innovative Lösungsansätze. Bevor Städte die nächsten Schritte zur Weiterentwicklung ihrer Tagesstrukturen und Tagesschulen unternehmen, lohnt sich ein Zwischenhalt mit einer Bestandsaufnahme und ein Blick auf die Vor- und Nachteile in den verschiedenen Modellen der von uns näher untersuchten Städte. Das vorliegende Themenpapier der Städteinitiative Bildung möchte hierzu einen Beitrag leisten. Es kann auf der Website der Städteinitiative Bildung heruntergeladen werden.